Das notleidende Kind
von Thich Nhat Hanh
Überall im Kosmos gibt es kostbare Edelsteine
Und sie sind auch in jedem von uns,
Ich möchte dir eine Handvoll davon schenken,
lieber Freund.
Ja, heute Morgen möchte ich dir eine Handvoll schenken,
eine Handvoll Diamanten, funkelnd von morgens bis abends.
Jede Minute unseres täglichen Lebens ist ein Diamant,
der den Himmel und die Erde enthält, den Sonnenschein und den Fluss.
Wir müssen einfach nur sanft atmen, dann wird sich uns das Wunder zeigen:
Vögel singen, Blumen blühen,
Hier ist der blaue Himmel, hier treiben die weißen Wolken,
dein allerliebster Blick, dein schönes Lächeln.
All dies ist in einem Juwel enthalten.
Du bist der reichste Mensch auf Erden
und benimmst dich doch wie ein notleidender Sohn,
bitte tritt dein Erbe an.
Lass uns einander Glück schenken
und lernen, im gegenwärtigen Moment zu weilen.
Lass uns das Leben liebevoll in unseren Armen halten
und unsere Unachtsamkeit und Verzweiflung loslassen.
Dem Glück auf der Spur
von Max Feigenwinter.
Wenn wir annehmen, dass manches nicht geschätzt wird,
verstehen, dass manches nicht gelingt,
zulassen, dass vieles uns nicht entspricht,
begreifen, dass Fehler unvermeidbar sind,
einsehen, dass der Wille allein oft nicht genügt,
zugeben, dass vieles mangelhaft ist,
entsteht eine Atmosphäre,
wo Menschen wagen zu sagen, was sie denken,
zu tun, was sie können, zu sein, wie sie sind.
Über die Geduld
von Rainer Maria Rilke
Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben.
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
Unglück ausatmen
von Erich Fried.
Sein Unglück
ausatmen können.
tief ausatmen
so dass man wieder
einatmen kann
Und vielleicht auch sein Unglück
sagen können
in Worten
in wirklichen Worten
die zusammenhängen
und Sinn haben
und die man selbst noch
verstehen kann
und die vielleicht sogar
irgendwer sonst versteht
oder verstehen könnte
Und weinen können
Das wäre schon
fast wieder
Glück
Freundlichkeit
von Naomi Shihab Nye.
… Bevor du Freundlichkeit als das Tiefste in dir erkennen kannst,
musst du Leid als das andere Tiefste in dir erkennen.
Du musst mit dem Leid aufwachen.
Du musst mit ihm sprechen, bis deine Stimme
Den Anfang des Fadens allen Leidens erwischt
Und du das ganze Ausmaß des Tuchs erkennst.
Dann macht nur noch Freundlichkeit Sinn.
Nur Freundlichkeit, die dir die Schuhe bindet
Und dich hinausschickt, um Briefe zur Post zu bringen und
Brot zu kaufen.
Nur Freundlichkeit, die ihren Kopf erhebt
Über die Masse der Welt, um zu sagen,
Ich bin es, nach der du gesucht hast,
Und die dich dann überall hin begleitet,
wie ein Schatten oder ein Freund. …
Love after Love (Liebe nach Liebe)
von Derek Walcott.
Es wird eine Zeit kommen,
da du dich selbst
begeistert begrüßen wirst,
wenn du ankommst,
bei deiner eigenen Tür, in deinem eigenen Spiegel,
und lächeln wirst bei der Begrüßung der anderen.
Invictus (Unconquered)
von William Ernest Henley.
Out of the night that covers me,
Black as the Pit from pole to pole,
I thank whatever gods may be
For my unconquerable soul.
In the fell clutch of circumstance
I have not winced nor cried aloud.
Under the bludgeonings of chance
My head is bloody, but unbowed.
Beyond this place of wrath and tears
Looms but the Horror of the shade,
And yet the menace of the years
Finds, and shall find, me unafraid.
It matters not how strait the gate,
How charged with punishments the scroll,
I am the master of my fate:
I am the captain of my soul.
Muße
von William Henry Davies.
Was ist dieses Leben, wenn wir nur an Sorgen kau’n
und keine Zeit bleibt, um zu stehen und zu schau’n.
Keine Zeit, um uns einmal auszuruh’n
und so lange zu schau’n, wie Schafe es tun.
Keine Zeit, um beim Gang durch den Wald zu merken,
wo die Eichhörnchen ihre Nüsse im Gras verbergen.
Keine Zeit, um im hellen Tageslicht zu seh’n,
wie Bäche glitzernd durch die Wiesen geh’n.
Keine Zeit, um uns umzudreh’n nach einer Schönheit Blick
und ihre Füße wirbeln zu seh’n in des Tanzes Glück.
Keine Zeit, um zu warten, bis ihr Mund sich gesellt
zu dem Lächeln, das schon ihre Augen erhellt.
Welch ein armseliges Leben, so an Sorgen zu kau’n
ohne Zeit, einfach zu stehen und zu schau’n.
Das Gasthaus
von Rumi.
Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Kummer und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment der Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.
Begrüsse und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,
die gewaltsam alle Möbel
aus dem Haus fegt –
erweise dennoch jedem Gast die Ehre.
Vielleicht bereitet er dich vor
auf ganz neue Freuden.
Dem dunklen Gedanken,
der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür
und lade sie zu dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind dir zur Führung geschickt worden
aus einer anderen Welt.
Der Warteort
von Dr. Seuss aus »Wie schön!So viel wirst du sehen!«
Traust du dich hinaus?
Traust du dich hinein?
Was könnte dein Verlust, was dein Gewinn wohl sein?
Und gehst du hinein, gehst du nach links oder rechts?
Oder nach rechts und dreiviertel?
Oder tust du doch nichts?
Du rennst los,
Bist ganz bang,
Durch verschlungene Wege,
Gefährlich und lang,
Und schindest Dich
Mühsam
Durch Wildnis hinfort
An einen, Ich fürchte,
Völlig nutzlosen Ort.
Im Warteort,
Wo Menschen nur warten,
Warten auf einen Zug, der geht
Oder einen Bus, der kommt
Oder ein Flugzeug, das geht
Oder die Post, die kommt
Oder den Regen, der aufhört
Oder das Telefon, das klingelt
Oder den Schnee, der schneit
Oder sie warten
Auf ein »ja« oder »nein«,
Auf Schmuck, auf Kleider,
Warten in Trance
Auf Lockenperücken
Auf die zweite Chance.
Mauern der Metamorphose
von Simon Schick
Manchmal fühl ich Trauer
und dann trauer ich um mich
manchmal bin ich sauer
und dann verzerrt sich mein Gesicht
manchmal fühl ich Wut
manchmal fühl ich Hass
doch ich weiß, es tut mir gut
und ich lass ihn fließen, wie beim Aderlass
manchmal fühl ich mich allein
habe Angst, mich zu verlier´n
doch dann fällt´s mir wieder ein:
nur allein kann ich mich richtig spür´n
manchmal fühl ich mich verkauft
verraten und entehrt
doch ich erkauf mir meine Freiheit teuer
denn ungeheuer viel bin ich mir wert
manchmal fühl ich mich gefangen
eingemauert im eigenen Haus
doch dann zerbreche ich die Stangen
und bau eine Brücke daraus…
Früher hab ich mir eine Mauer gebaut
Ich hab nichts mehr gespürt
Denn ich hab nicht mehr hingeschaut
Früher hab ich Gruben gegraben
und Steine gelegt
ich hab das Licht ausgemacht
und hab alleine gelebt…
Manchmal hab ich Angst
manchmal ein ungutes Gefühl
doch dann vertrau ich mich dir an
denn nur Vertrau´n bringt mich an´s Ziel
manchmal hab ich Sorgen
doch dann fühl ich mich von dir umsorgt
und dann fühl ich mich geborgen
denn du hast mir deine Ohren geborgt
manchmal fühl ich mich verzweifelt
denn dann zweifel ich an mir
doch dann fühl ich, wie mich jemand streichelt
wodurch ich jeden Zweifel verlier
manchmal fühl ich mich verloren
doch dann verlier ich mich in dir
und dann fühle ich mich auserkoren
und finde mich wieder im Jetzt und Hier
manchmal finde ich mich missverstanden
doch es geht nicht immer mit dem Verstand
und während and´re sich abwandten
bleib ich stets dein Trabant
denn ich spür deine Hand!
…Früher hab ich durch das Loch in der Mauer gespäht
da hat einer gestanden und hat Liebe gesät
Früher sah ich das Licht einer Kerze in der Nacht
Da hat einer gelacht,denn ich hab vorsichtig Scherze gemacht…
Manchmal fühle ich das Leben
manchmal gehe ich den Weg
denn du hast sie mir gegeben
hast sie mir in die Wiege gelegt
manchmal fühle ich die Freude
und ich weiß, es ist an der Zeit
dass das Ganze nicht nur heute
sondern bis in alle Ewigkeit so bleibt
manchmal fühle ich die Hoffnung
manchmal fühle ich das Licht
manchmal öffne ich mich soweit
dass es sich in meinem Herzen bricht
manchmal fühle ich die Wärme
manchmal fühle ich die Kraft
manchmal bin ich mir ganz sicher:
Wenn ich so weitermach
dann hab ich´s bald geschafft!
Manchmal fühle ich die Liebe
Und manchmal die Sicherheit
Und wenn sie noch ein bisschen bliebe
Weiß ich, es ist nicht mehr weit…
Heute hab ich endlich das Tor aufgemacht
ich war geblendet durch das Licht
und es hat laut gekracht
heute bin ich unter Tränen auf die Knie gefall´n
ich hab die Hände emporgestreckt
und ich hab Liebe empfangen.
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