» Oh, ich sage Dir, mein Freund, die größte Angst von allen, ist nicht die Angst vor dem Sterben, sondern die Angst vor dem Leben. «Mr. Ramesh
Stell Dir vor, Du spielst mit einer dieser chinesischen Fingerfallen, mit denen Du vielleicht als Kind gespielt hast. Eine Fingerfalle ist eine Röhre aus gewobenem Stroh etwa 12 cm lang und 1,5 cm breit. So etwas bekommst Du evtl. in einem Bastelladen oder einem Geschäft für Scherzartikel, dann kannst Du die folgende Übung selbst machen. Wenn nicht, kannst Du es Dir aber auch einfach vorstellen.
Während einer Therapiesitzung gab mein Therapeut mir eine solche Fingerfalle und bat mich, jeweils einen Zeigefinger in die Öffnungen am Ende der Röhre hineinzustecken. Dann sollte ich mich daraus befreien, ohne die Fingerfalle kaputt zu machen. Neugierig steckte ich die Finger hinein. »Wenn ich so leicht da rein komme«, dachte ich, »dann komme ich genauso leicht auch wieder raus.« Weitgefehlt! Mein erster Impuls war die Finger einfach wieder rauszuziehen. Zack und schon zog sich die Röhre zu! Ich steckte mit beiden Fingern fest. Die Finger ließen sich nicht mehr rausziehen. Je fester ich zog, um so enger zog sich die Fingerfalle zu. Vielleicht hätte man die Finger mit Gewalt befreien können, ich sollte sie aber nicht kaputt machen und hatte auch Angst mich zu verletzen und außerdem war mein Ehrgeiz geweckt, dort mit Logik und Intelligenz wieder hinauszukommen.
Also was konnte ich tun? Ich versuchte die Finger zu drehen, ich versuchte nur an einer Seite zu ziehen, wodurch die andere Seite sich automatisch zuzog. Ich wurde immer angespannter und nervöser, mir viel keine Lösung ein. Mein Therapeut beobachtete das Ganze und grinste verschmitzt. Schließlich befreite er mich aus dieser misslichen Lage. Er riet mir, nicht mehr daran zu ziehen und erst mal locker zu lassen und Inne zu halten. Das tat ich. Sofort lockerte sich die Röhre wieder. Es ist etwas verwirrend, obwohl es logisch erscheint, die Finger durch Ziehen aus der Falle zu befreien, funktioniert das nicht. Die Lösung dagegen erscheint auf den ersten Blick gar nicht logisch. Mein Therapeut bat mich, die beiden Finger noch weiter hineinzudrücken. Das tat ich und sofort wurde die Röhre breiter.
Je weiter ich die Finger hineinschob, um so größer wurde der Raum in der Röhre und ich konnte die Finger schließlich ganz leicht hinausziehen.
Die Angst loslassen und ihr Raum geben
Ebenso ist es mit unseren Ängsten: Je verzweifelter wir versuchen sie loszuwerden, um so stärker werden sie. Wir versuchen sie mit aller Macht zu verdrängen, zu kontrollieren, zu ignorieren, lenken uns von unseren Ängsten ab oder betäuben sie mit Alkohol, Drogen oder Beruhigungsmitteln.
So geraten wir in eine Angstfalle, einen Teufelskreis der Angst vor der Angst. Jedesmal wenn wir auch nur einen Anflug von Angst fühlen, fürchten wir, sie könnte stärker werden, bis es zu einer heftigen Panikattacke kommt. Wie bei der Fingerfalle erscheint es zunächst unlogisch sich weiter in die Angst hineinzubegeben, sie bewusst wahrzunehmen, und ihr mehr Raum zu geben. Du musst die Angst nicht mögen, gib ihr nur etwas mehr Raum, nur für diesen Moment. Tun wir das, können wir die Angst wie ein neugieriger Wissenschaftler einfach beobachten, ohne sie zu bewerten. Das ist ein schwieriger Schritt, gelingt es uns aber dies zu tun, erkennen wir, dass die Angst nichts ist, das uns bedrohen kann, das gefährlich ist, vor dem wir Angst haben müssten. Es kann sein, dass sie dabei erst mal größer wird, je öfter wir aber üben, in die Angst hineinzugehen, ihr Raum zu geben, desto weniger werden wir sie fürchten. In [tooltip tip=”ACT wurde von dem Psychologen Steven Hayes und seinen Kollegen Kelly Wilson und Kirk Strosahl entwickelt. ACT gehört zu den neueren Verhaltenstherapien der sogenannten »Dritten Welle«. Die Wirkung von ACT wurde durch wissenschaftliche Studien belegt … zum Glossar »”]ACT nennt man das [tooltip tip=”Durch Ausdehnung/Expansion schafft man Raum für unangenehme Gefühle und Empfindungen, statt zu versuchen, sie zu unterdrücken oder zu verdrängen. Wenn Sie sich öffnen und mehr Raum um diese Gefühle herum schaffen, werden Sie feststellen, dass sie Ihnen viel weniger zur Last fallen und sie viel schneller weiterziehen, anstatt »hängenzubleiben« und Sie zu stören … zum Glossar »”] Ausdehnung.
Praktizieren wir Ausdehnung, bemerken wir nicht nur, dass die Angst gar nicht so bedrohlich und schlimm ist, wie wir es uns vorgestellt haben, wir erkennen auch, was hinter der Angst steht.
Der Weg heraus ist der Weg hinein.
Mein Therapeut zeigte mir anschließend noch ein tolles Video. Da erklärt Mr. Ramesh, ein fiktiver indischer Kleinwarenhändler auf humorvolle Art und Weise, dass wir auch ganz anders mit der Angst umgehen können.
Quelle: https://www.youtube.com/watch?v=CDlILJoYA3E | Sprache: Englisch | Länge: ca 2:46 Minuten.
Mr. Ramesh sagt:
Das Problem ist nicht die Angst selbst. Das Problem ist, dass Du nicht neugierig genug bist. Denn wenn Du Angst hast, rennst Du sofort weg. Du weißt nicht einmal, wovor Du Angst hast! Wie kannst Du etwas erkennen, wenn Du wegrennst? Wenn Du irgendwo raus willst, musst Du erst einmal reinkommen. Ganz einfach zu verstehen.
Du kannst aus einem Zimmer nicht rauskommen, wenn Du nicht erst einmal in das Zimmer reingehst. Ganz Einfach. Der Weg heraus ist der Weg hinein. So wie mit dem Zimmer, ist es mit der Angst. Das Gleiche. Spring rein. Versuche die Angst zu erkennen. Vielleicht hast Du ja Angst vor den spannendsten Sachen in Deinem Leben?
Also, wenn Du Angst hast, fängt Dein Körper an zu zittern, so etwa. Spring rein. Oh, guck ihn Dir an, meinen Körper. Was passiert mir gerade, da drinnen? Du wirst eine große Party da drin entdecken, jede Menge Energie bewegt sich da in Dir. Ich bewege mich ohne meinen Willen. Ich bin hier nicht mehr der Boss. Manchmal zahlst Du, um in die Achterbahn zu gehen, um dieses Gefühl zu bekommen. Und jetzt ist dieses Gefühl in Dir drin. Angst zu haben kann zu einem Nervenkitzel werden. Das nächste Mal, wenn Du Angst hast, renne nicht weg. Sei einfach neugierig.
Oh, ich sage Dir, mein Freund, die größte Angst von allen, ist nicht die Angst vor dem Sterben, sondern die Angst vor dem Leben! Wenn Du das nächste Mal also Angst hast, feiere einfach.
Ich bin am Leben … ich bin am Leben …
Ich zittere … ich zittere …
Guck ihn Dir an, meinen Körper.
Du kannst sogar einen Tanz daraus machen.
Oh, ich habe Angst, ich habe Angst, ich bin am Leben.
Vielen herzlichen Dank.
Komm noch einmal.
Ich habe Angst.
Ich bin am Leben.
Seit dieser Übung habe ich stets eine Fingerfalle in meiner Tasche, wenn ich mal wieder etwas machen möchte, wovor ich große Angst habe, wie z.B. auf ein Konzert zu gehen. Ich habe schon so viel Geld für Tickets für Konzerte ausgegeben, die ich dann wegen der Angst nicht besuchen konnte. Meistens habe ich es erst gar nicht geschafft loszufahren und wenn mir das mal gelungen ist und die Angst während der Fahrt immer größer und größer wurde, habe ich wieder umgedreht und bin zurück nach Hause gefahren. Kurzfristig brachte das Erleichterung, klar, die Angst war weg, dann kam aber recht schnell der Frust, die Enttäuschung, die Wut, auf mich selbst, weil ich mal wieder etwas nicht geschafft hatte, das mir viel bedeutet hat, was ich gerne erlebt hätte. Wenn das heute wieder passiert, dann halte ich erstmal an, um zu bemerken, was da gerade passiert.
Das ist der erste Schritt, Stop sagen und schauen, was in meinem Körper gerade abgeht (eine riesige aufregende Party).
Zweiter Schritt: Das Gefühl benennen (Ah ja, da ist Angst) Dann nehme ich die Fingerfalle und mache die Übung. Seitdem sind die Kosten für Konzerte, die ich wegen der Angst nicht besuchen konnte, erheblich gesunken und ich habe unvergessliche tolle Erlebnisse gehabt. Daher bin ich meinem Therapeut sehr dankbar, dass er mir diese wertvolle Übung und das wundervolle Video mit Mr. Ramesh gezeigt hat! 🙂
Probiere es doch selbst mal aus, es ist gar nicht so schwer, wie es zunächst erscheint. Und wenn es trotzdem nicht klappt, dann sei freundlich und rücksichtsvoll zu Dir.