Meine Rezension zum Buch »Selbstmitgefühl Schritt für Schritt« von Kristin Neff
Veröffentlicht am 13. Januar 2016 bei amazon.de
»Selbstmitgefühl Schritt für Schritt« ist eine kompakte Anleitung für das von Kristin Neff und Christopher Germer entwickelte Training »Mindful Self-Compassion« (deutsch: »achtsames Selbstmitgefühl«) zur Entwicklung von mehr Selbstmitgefühl im täglichen Leben.
Es enthält praktische Übungen und Meditation, die von den erfahrenen Meditationstrainern Christine Brähler und Lienhard Valentin angeleitet werden. Die Stimmen sind angenehm und warm, man merkt beiden Sprechern an, dass sie das vermittelte praktisch lehren und leben.
Die Übungen lassen sich gut in den Alltag integrieren und sind leicht nachvollziehbar. Die Texte erklären die Übungen und bieten eine kompakte Zusammenfassung von Neff’s Grundlagenwerk »Selbstmitgefühl – Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden« über ihre wissenschaftlichen Arbeiten zum Selbstmitgefühl.
Ein zentrales Thema der wissenschaftlichen Arbeiten von Neff ist die »Selbstwertproblematik«. Meiner Ansicht nach eines der wichtigsten Probleme unserer modernen Gesellschaft, daher hebe ich es in dieser Rezension besonders hervor. Kristin Neff schreibt:
Die Vorstellung, dass ein hohes Selbstwertgefühl von psychischer Gesundheit zeugt, ist in der westlichen Kultur so weit verbreitet, dass die Leute entsetzt davor zurückschrecken, irgendetwas zu tun, was dieses Selbstwertgefühl gefährden könnte. Wir haben gelernt, dass wir um jeden Preis ein positives Selbstbild wahren müssen.
Unser ganzes Wirtschaftssystem ist darauf aufgebaut, uns mit Idealbildern aus Medien und Arbeitswelt zu vergleichen. Wir werden dazu aufgefordert Dinge haben zu müssen, die Andere auch haben, um »cool« zu sein, um »hipp« zu sein, um Anerkennung zu bekommen, um »dazu zu gehören«. Ratgeber, Apps und Werbung suggerieren uns:
»Du bist nicht gut genug, aber Du kannst das ändern!«
»Du kannst so sein, Du kannst so aussehen, wie die in der Werbung, «
»Du kannst so erfolgreich sein und berufliche Karriere machen,«
»Du kannst reich UND glücklich werden.«
Sie treiben uns an zur Selbstoptimierung: für mehr Leistung im Beruf, für mehr Erfolg, für ein besseres Aussehen, Fitness und ein hohes Selbstwertgefühl. Und vor lauter Selbstoptimierung verlieren wir uns und das, was uns wirklich wichtig ist aus den Augen, wir jagen einem Ziel nach dem anderen hinterher und werden zunehmend frustrierter, unzufriedener, ja sogar depressiv und krank.
Denn Tatsache ist: Es ist logisch unmöglich, dass jeder gleichzeitig über dem Durchschnitt ist. Die Definition von Durchschnitt bedeutet, dass man so ist, wie die meisten Menschen. Jeder Mensch hat Stärken und Schwächen, in manchen Dingen bin ich gut, in anderen schlecht und in den meisten durchschnittlich. Kristin Neff schreibt:
Wenn wir uns besser als andere sehen müssen, um uns gut genug zu fühlen, dann finden wir Wege, um die Realität unseres eigenen Wesens auszublenden. Und wir finden Wege, um andere herablassend zu behandeln. Wir sehen sie dann nicht in solch einem guten Licht, wie wir es sonst tun würden. Denn es hilft uns dabei, uns im Vergleich mit ihnen gut genug zu fühlen.
Tatsächlich führt das propagierte »hohe Selbstwertgefühl« leicht zu Arroganz, Selbstgerechtigkeit, Selbstsucht, Egoismus oder einem trügerischen Gefühl der Überlegenheit (was dann leicht Diskriminierung und Vorurteile hervorrufen kann). Dies kann in extremen Formen bis zum [tooltip tip=”Der Begriff Narzissmus steht für die Selbstverliebtheit eines Menschen oder für das Verhalten eines Menschen, der sich selbst für wichtiger und wertvoller einschätzt, als die meisten anderen Menschen … zum Glossar »”] »Narzissmus« führen und tatsächlich wurde ein starker Anstieg narzisstischer Verhaltensweisen in unserer westlichen Gesellschaft in mehreren wissenschaftlichen Studien nachgewiesen. Neff spricht sogar von einer »Narzissmus-Epidemie« in den USA.
Der Weg unseren Selbstwert davon abhängig zu machen, wie wir uns selbst beurteilen bzw. wie uns die Gesellschaft beurteilt, ist ebenso ein Irrweg, wie unser Selbstbild davon abhängig zu machen, wie wir glauben, von der Gesellschaft wahrgenommen zu werden oder wahrgenommen werden wollen. Die Betonung liegt dabei auf glauben.
Den wissenschaftlichen Forschungen und Publikationen von Kristin Neff ist es zu verdanken, dass immer mehr Psychologen und Wissenschaftler von dem Irrweg des »hohen Selbstwertgefühls« als Quelle für ein erfolgreiches und glückliches Leben abkommen. Neff zeigt einen anderen, einen heilsamen Weg: Freundschaft mit uns selbst schließen. Uns so annehmen zu können, wie wir sind, mit all unseren Stärken und Schwächen und dass wir kein »hohes Selbstwertgefühl« für ein zufriedenes und erfülltes Leben brauchen. Dafür brauchen wir Selbstmitgefühl.
Zur Vertiefung der Kultivierung von mehr Selbstmitgefühl und wissenschaftlichen Studien empfehle ich Neffs Grundlagenwerk sowie das Buch von Christopher Germer »Der achtsame Weg zur Selbstliebe«.
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