Geschafft! Die Weihnachtszeit ist vorüber. Seit ich Depressionen habe, ist das so ziemlich die schlimmste Zeit des Jahres. Besonders Heiligabend. Die Weihnachtszeit ist das Fest der Familie, heißt es und diese drei Tage machen mir schmerzlich bewusst, dass ich keine eigene Familie habe. Ich habe liebevolle Eltern und einen Bruder, den ich ebenso liebe, der eine eigene Familie hat. Es tut weh, das zu sehen, wenn er mit Familie zu besuch kommt, trotzdem freue ich mich, ihn und meine Neffen zu sehen.
Die Depression lähmt mich in dieser Zeit deshalb ganz besonders. Ich habe nicht mal eine Partnerin und die Einsamkeit ist, obwohl ich mich im Kreise meiner Familie befinde, besonders stark zu spüren und das ist kaum zu ertragen. Schon in den letzten Jahren war das schwierig. Heiligabend mit meinen Eltern dazusitzen und gemeinsam zu essen, sich zu beschenken. In diesem Moment wird mir stets bewusst, dass ich der Grund bin, dass meine Eltern kein glückliches Leben haben können, auch wenn mir klar ist, dass es nicht meine Schuld ist. Schuld würde bedeuten, ich hätte sie absichtlich unglücklich gemacht. Diese Schuld tragen andere, die, die mich in der Psychiatrie mit Psychopharmaka zugedröhnt haben, ohne mich darüber aufzuklären, was sie mir da geben und was für Risiken und Nebenwirkungen damit verbunden sind und der falsche [tooltip tip=”Mit dem Begriff Entzugssyndrom werden alle körperlichen und psychischen Erscheinungen zusammengefasst, die nach dem Absetzen oder einer Dosisreduktion von psychotropen Substanzen auftreten … zum Glossar »”]Entzug, der die Depressionen ausgelöst hat.
Dieses Jahr gab es zum ersten Mal gar kein Heiligabend und auch die beiden Weihnachtstage danach habe ich mich zurückgezogen. Als ich dachte, es wäre überstanden, kündigte sich mein Bruder für den Abend des 2. Weihnachtsfeiertages mit Familie an.
Zwei Gefühle erfüllten mich in diesem Moment, Freude, meinen Bruder und meine Neffen zu sehen und Traurigkeit, noch mal direkt zu erfahren, dass ich keine eigene Familie habe.
Ich hatte mir vorgenommen, dabei zu sein, aber ich spürte schon am Nachmittag, dass ich das nicht schaffen würde.
Für meine Neffen gestaltete ich an diesem Nachmittag eigene Weihnachtskarten. Ich schrieb hinein, dass ich ihnen ein schönes Weihnachten und ein schönes neues Jahr wünschte und sie sich von dem Geld, das ich beilegte, etwas [tooltip tip=”Werte drücken aus, was wir für ein Mensch sein wollen und was uns im Leben wirklich wichtig ist. Im Gegensatz zu Zielen, die erreicht werden können oder nicht, begleiten uns Werte unser ganzes Leben lang … zum Glossar »”]Wertvolles kaufen sollten. Ich weiß nicht, ob sie schon verstehen, was etwas Wertvolles
ist, aber mein Bruder wird es ihnen sicher erklären. Dann klebte ich noch einen Aufkleber mit einem Herzen und dem Satz Schön, dass Du da bist
in die Karte. Meinem Bruder schenkte ich mein Lieblingsbuch Ich Pflanze ein Lächeln von Thich Nhat Hanh als Hörbuch, da er Bücher nicht so gerne liest. In seine Karte klebte ich den gleichen Aufkleber und wünschte ihm ein zufriedenes Jahr und dass das Hörbuch ihm ein wertvoller Begleiter dabei sei.
Da sie abends spät ankamen, bat ich meine Mutter ihnen zu sagen, dass sie am nächsten Tag zu mir kommen sollten. Da ich nicht wusste, dass meine Schwägerin auch mitkommen würde, hatte ich kein Geschenk für sie und da sie mich und mein Leiden (noch) nicht versteht, fällt es mir extrem schwer ihr gegenüber zu treten.
Am nächsten Morgen praktizierte ich die Atemmeditation und die [tooltip tip=”»Die Mettâ-Meditation«, auch Meditation der »Liebenden Güte« genannt, ist eine buddhistische Meditationspraxis zur Entwicklung von mehr Selbstmitgefühl … zum Glossar »”] »Die Mettâ-Meditation« und schloss meine ganze Familie darin mit ein, meine Eltern, mein Bruder, meine Neffen, meine Schwägerin. Ich öffnete mein Herz für alle, wünschte uns allen, dass
wir frei von Schmerz und Leid sein mögen,
dass wir glücklich und zufrieden sein mögen,
dass wir gesund sein mögen,
dass wir mit Leichtigkeit und Gelassenheit leben mögen und
das wir sicher und geborgen sein mögen.
Ich meditierte vor meinem PC, da ich kürzlich ein Bild des lächelnden Thich Nhat Hanh mit dem wunderschönen Satz Smiling is mouth yoga
als Hintergrundbild installiert hatte, also zu deutsch Lächeln ist Mundyoga
. Wenn ich diesen Menschen ansehe, wie er friedlich lächelnd mich anschaut, dann öffnet sich mein Herz ganz automatisch.
Als meine Neffen gefolgt, von meinem Bruder mein Zimmer betraten, fühlte ich Schmerz und Freude zugleich in meinem Herzen. Ich überreichte die Karten an meine Neffen und sagte ihnen, dass ich mich freuen würde, sie zu sehen und gab ihnen dabei die Hand. Sie sind stets sehr schüchtern, wenn sie mir begegnen, obwohl sie sonst sehr lebendig sind. Ich hörte sie die ganze Zeit durchs Haus toben. Ich verstehe das, sie kennen mich ja kaum. Ich hoffe, dass sich das bald ändert, wenn ich die Psychopharmaka doch noch absetzen kann und damit auch die Depression geht. Meinem Bruder nahm ich kurz in den Arm und er fragte mich, wie es mir geht. Ich antwortete: Es geht so
, was bei Menschen mit Depressionen eigentlich heißt: mir geht es schlecht
, aber so direkt will man das dann niemanden sagen. Wenn ich einen Termin bei meinem Therapeuten habe, begrüßt dieser mich stets sehr herzlich und freudestrahlend und es schmerzt mich jedes Mal ihm sagen zu müssen, dass es mir schlecht geht.
Die restliche Zeit zog ich mich wieder in mein Zimmer zurück. Am nächsten Morgen wollte ich mich eigentlich von ihnen verabschieden, aber ich schaffte es erst um 10:00 Uhr aufzustehen. In letzter Zeit fällt mir das Aufstehen morgens besonders schwer.
Das schönste Geschenk, das mein Bruder mir machte, war, dass er mich und mein Verhalten verstand, er verteidigte mich vor seiner Frau, die das nicht verstand, wie ich hinterher von meiner Mutter erfuhr.
Er versteht mich und mein Leiden und dafür bin ich ihm sehr dankbar.
Weihnachten ist für viele Menschen mit Depressionen eine schwierige Zeit und auch die Tage zwischen den Jahren und Sylvester. Alles ist festlich geschmückt, in den Straßen gibt es Lichterketten, beleuchtete Weihnachtssterne, die Häuser sind beleuchtet, überall stehen geschmückte Weihnachtsbäume, Weihnachtslieder werden gesungen, Kinder freuen sich auf die Bescherung und Menschen trinken Glühwein auf Weihnachtsmärkten.
Weihnachtsmärkte: Ich erinnere mich noch gut daran, als ich mit meiner besten Freundin, die auch Depressionen hat auf einem Weihnachtsmarkt war. Die ganze Atmosphäre dort passte so gar nicht zu unserem Innenleben. Wir kamen uns vor, wie Außerirdische. Als dann auch noch ein Lebkuchenmädchen (eine junge Frau in einem Lebkuchenkostüm, wirklich bizarr) auf uns zukam und uns frohe Weihnachten wünschte, schauten wir uns mit offenem Mund an und fragten uns, wer hier eigentlich verrückt ist und mussten lachen. Eigentlich wäre das Ganze nur mit Alkohol zu ertragen gewesen, da wir beide keinen Alkohol trinken durften, gingen wir. Zumindest hatten wir einen spaßigen Moment zusammen. Ein Lebkuchenmädchen: Als ich auf dem Rückweg zu meiner Freundin sagte, ich hätte sie am liebsten angeknabbert, weil sie auch noch sehr attraktiv war, konnte sich meine Freundin vor Lachen nicht mehr halten. Ein schöner Moment.
Es sind diese Momente, die selbst diese Zeit erträglich machen, diese kleinen Oasen des Glücks, meine Neffen zu sehen, meinen Bruder zu umarmen oder wie damals auf dem Weihnachtsmarkt meine beste Freundin in einer für sie genauso schmerzvollen Zeit, wie für mich, zum Lachen zu bringen.
Für mich ist Weihnachten die Zeit anderen Menschen etwas gutes zu tun, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Eigentlich ist das doch auch der tiefere Sinn von Weihnachten und nicht der Konsumwahnsinn, der daraus geworden ist.
Jetzt ist Weihnachten vorbei, aber der nächste schwierige Abend steht schon vor der Tür: Sylvester
, dass ich wie die letzten Jahre allein zu Hause verbringen werde und wenn draußen die Raketen gezündet werden und das Feuerwerk den Himmel in bunten Farben und Formen erleuchtet, sich Menschen in die Arme fallen, Pärchen sich küssen und sich alle ein gutes neues Jahr wünschen, sitze ich im Dunkeln und habe meine Kopfhörer auf, höre meine Lieblingsmusik, damit ich das Knallen der Böller nicht hören kann und das Feuerwerk nicht sehen kann.
Da ich mir nie viel aus Sylvester gemacht habe, ist das nicht ganz so schlimm, wie Weihnachten. Trotzdem würde ich gerne, wenn diese Depression mal gegangen ist, wieder mit meinen Freunden ausgelassen feiern, nur mit einer Depression ist das einfach nicht möglich, ich habe es probiert, es ist wie auf dem Weihnachtsmarkt gewesen, ich fühlte mich wie ein Außerirdischer. Während alle fröhlich und ausgelassen waren, zerriss es mich innerlich. Diese radikale Konfrontation meines depressiven Innenlebens mit diesem plötzlichen Ausbruch von Freude und Glück um mich herum, als es 00:00 Uhr war, war unerträglich für mich und deshalb achte ich in dieser Zeit besonders auf mich und ziehe mich eher zurück.
Ich bin deswegen nicht verbittert oder ärgere mich, ich bin traurig ja, aber ich weiß, es würde mir nicht gut tun, in meinem depressiven Zustand auf eine Sylvesterparty zu gehen. Das wäre nicht mitfühlend mir gegenüber. Wenn die Depression gegangen ist, dann werde ich wieder Sylvester feiern. Alles zu seiner Zeit.
Wenn Du auch eine Depression hast, dann lass Dir in dieser Zeit von keiner Person sagen, was Du zu tun hast, was gut für Dich wäre, entscheide selbst, was für Dich gut ist, sei achtsam und mitfühlend zu Dir, sorge für Dich, gleich, was andere von Dir wollen. Suche Deine kleinen Oasen des Glücks, vielleicht gibt es Rituale, die Du in dieser Zeit magst, z. B. ein besonderes Gericht, ein Gedicht, ein besonderer Film, der für Dich zu Weihnachten dazugehört. Bei mir ist es z. B. Weihnachten bei Hoppenstedts des großartigen Humoristen Loriot. Diese Satire von 1978 ist zeitlos witzig. Wie Loriot das Fest der Feste demontiert, ist auch heute noch großes Kino und für mich Anlass zur Freude. Es hat für mich beinahe etwas Versöhnliches, Weihnachten hat dann etwas Humorvolles und gibt mir den Anstoß in den nächsten Tagen die gesamte Fernsehedition von Loriot, die ich auf DVD habe anzusehen und viele Momente der Heiterkeit, des Lachens zu haben, in dieser sonst so düsteren Zeit für mich.
Wer Weihnachten bei Hoppenstedts noch nicht kennt, kann es sich hier ansehen:
https://www.youtube.com/watch?v=MSY71JNvmhI
Noch ein Gedanke zum Schluss: Ich erwarte nicht, dass Menschen, die keine Depression haben, das zu verstehen. Ich wünsche mir nur, dass sie Verständnis zeigen und viele tun das auch, das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied.
Verstehen würde bedeuten: Ich kann Dein Leid, Deinen Schmerz fühlen, weil auch ich diesen Schmerz, dieses Leid schon erfahren habe und weiß, wie Du Dich fühlst.
. Verstehen bedeutet mit dem Leidenden verbunden zu sein, weil man selbst schon Leid erfahren hat.
Verständnis zeigen bedeutet: Ich kann zwar nicht wirklich verstehen, wie es Dir geht, was Du gerade fühlst, aber es ist für mich in Ordnung, wenn Du mir sagst, dass Du Dich zurückziehen möchtest, um nicht noch mehr zu leiden, was auch immer der Grund dafür ist.
Ärgere Dich nicht, wenn es Menschen gibt, die dieses Verständnis nicht zeigen. Es liegt nicht daran, dass sie es nicht wollen, sie können es einfach (noch) nicht. Bewahre Dir Dein Mitgefühl für diese Menschen, denn sie leiden ebenso darunter, wie Du.
[tooltip tip=”Erfahre, was das Wort »Aloha« bedeutet, woher es kommt und was der »Aloha-Spirit« ist … zum Beitrag »”]Aloha*
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