Heute habe ich es seit langem mal geschafft, mich auf mein Meditationskissen zu setzen und zu meditieren. Durch die Depression gelingt mir das nur selten. Obwohl ich täglich in meinem Fernsehsessel sitze und mein Meditationsplatz nur zwei Schritte entfernt ist, gelingt es mir einfach nicht, mich aufzuraffen und diese lächerlichen zwei Schritte zu gehen.
Ich sehe den Platz mit einer Mischung aus Wehmut, Angst und Frustration an. Ich habe mir den Platz schön eingerichtet. Eine orangefarbene Salzkristalllampe und ein großes Bild mit einer geöffneten pinkfarbenen Lotusblüte laden geradezu dazu ein, sich niederzulassen und den Geist zur Ruhe kommen zu lassen. Es ist auch nicht so, dass ich nicht wüsste, wie das geht. Ich würde mich zwar immer noch als Meditationsanfänger bezeichnen, aber die Techniken wie Konzentration auf den Atem, [tooltip tip=”»Die Mettâ-Meditation«, auch Meditation der »Liebenden Güte« genannt, ist eine buddhistische Meditationspraxis zur Entwicklung von mehr Selbstmitgefühl … zum Glossar »”] »Mettâ-Sätze« sprechen und Gedanken und Bilder zu bemerken und wieder loszulassen habe ich oft geübt. Ich weiß auch, dass es wirklich funktioniert, wenn ich nicht versuche die Meditation als Kontrollstrategie zu nutzen, sondern einfach alles kommen und gehen zu lassen, so wie es jetzt gerade geschieht.
Warum gelingt es mir trotzdem kaum, das zu tun? Es mag sich für jemanden, der keine Depression hat absurd anhören: Es gibt oft genug Tage, da sitze ich Stunden in diesem Sessel, unfähig aufzustehen, als ob ich darin festgeklebt wäre. Ich schaffe es dann nicht mal die Wasserflasche zu nehmen und zu trinken, die neben mir auf dem Couchtisch steht. In diesem Zustand aufstehen zu wollen und zwei Schritte zum Kissen zu gehen ist, als wolle ich den Grand Canyon mit einem Sprung überqueren, völlig unmöglich! Mein Kopf, meine Gedanken blockieren meinen Körper, er ist wie gelähmt. Ich kann nicht mal meine [tooltip tip=”ACT wurde von dem Psychologen Steven Hayes und seinen Kollegen Kelly Wilson und Kirk Strosahl entwickelt. ACT gehört zu den neueren Verhaltenstherapien der sogenannten »Dritten Welle«. Die Wirkung von ACT wurde durch wissenschaftliche Studien belegt … zum Glossar »”]ACT-Strategien abrufen, ich weiß, dass es sie gibt, aber sie scheinen sich in einem Bereich meines Gehirns zu befinden, auf den ich keinen Zugriff habe. Ich bin vollkommen mit meinen [tooltip tip=”Mit »Geschichte« wird eine Abfolge von Worten oder Bildern bezeichnet, die Informationen vermittelt. Der geläufigere Ausdruck dafür ist »Gedanken« oder »Kognitionen«, aber wenn wir von »Geschichten« sprechen, können wir damit effizienter umgehen … zum Glossar »”] Geschichten [tooltip tip=”»Fusion« bedeutet, dass Dinge verbunden oder miteinander verschmolzen werden. In der Akzeptanz- und Commitment-Therapie benutzen wir den Begriff »Fusion« oder »Verschmelzung«, um zu sagen, dass ein Gedanke und die Sache, auf die er sich bezieht – also die Geschichte und das Ereignis – so aneinander »festkleben«, dass sie eins zu sein scheinen … zum Glossar »”] verschmolzen und sie hören sich allesamt an, wie die absolute Wahrheit! Die »Depressionsgeschichte«, die mir erzählt, dass alles sinnlos und hoffnungslos ist, dass die Depression niemals weggehen wird, egal was ich auch tue, weil sie nicht therapierbar und nicht heilbar ist und ich damit leben muss und sie nicht überleben werde!
Kurz flackert der Gedanke auf »Du könntest den Zettel mit der Geschichte aus der Gesäßtasche ziehen, den Du immer bei Dir trägst, der Zettel auf dem steht, was für eine Geschichte Dein Verstand Dir gerade wieder als absolute Wahrheit verkauft, der Zettel, auf dem diese schlimmen Gedanken stehen, die eigentlich immer die gleichen sind, der Zettel, der Dir sagt, dass es nur eine Geschichte ist und Du Dich bei Deinem Verstand dafür bedanken sollst, dass er Dich gerade mal wieder darauf aufmerksam macht (er kann ja auch nix dafür, das er so funktioniert), der Zettel auf dem steht, was Dir wirklich wichtig ist und Dir klar macht, warum Du diese Gedanken hast!« Leider klappt das auch nicht, in dieser Situation ist mir das nicht so richtig bewusst, warum ich den Zettel bei mir trage und was er bezweckt. Das ist sehr frustrierend!
Noch frustrierender sind die Phasen, in denen ich meditieren könnte, aber stattdessen achtlos am Kissen vorbeilaufe, um mich vor den PC zu setzen und mich durch Spielen abzulenken. Gerade eben erst habe ich wieder eine solche Phase hinter mir. Diese Phasen schaden mir extrem und ich weiß das, trotzdem spiele ich! Auch wenn ich mir vornehme nur eine Stunde zu spielen, um auf andere Gedanken zu kommen (wie ich mir gerne einrede) werden meist mehrere Stunden oder auch ein ganzer Tag daraus. Ich bin dann tatsächlich vollkommen abgelenkt. Ich habe keine depressiven Gedanken und von meinen körperlichen Symptomen wie den Magen-Darm-Krämpfen spüre ich rein gar nichts. Ich fühle mich unbeschwert und vermeintlich gut, kein Wunder, dass ich nicht aufhören kann.
Ich zahle aber jedes Mal einen hohen Preis: Durch das exzessive Spielen steigt die psychische Anspannung, die ja ohnehin schon hoch genug ist, seit dem Entzug. Ich finde abends nicht zur Ruhe, der ganze Körper ist angespannt wie eine Bogensehne, stehe vollkommen unter Strom, der ganze Körper kribbelt. Ich schlafe schlecht ein, wache oft auf und habe wieder diese Horror-Albträume. Mein Facharzt meint, das ginge in Richtung epileptischer Anfall und tatsächlich steht auf der Spieleverpackung auch eine Epilepsiewarnung drauf.
Wenn ich diese Albträume dann mehrere Nächte nacheinander hatte und meine Eltern mich aus diesen Albträumen rausholen mussten, dann höre ich wieder auf zu spielen. Ich deinstalliere das Spiel, in der Hoffnung, es so schnell nicht wieder zu installieren, als Botschaft an meinen Verstand: »Da schau hin, ich spiele nicht mehr, bist Du jetzt zufrieden?« Die Botschaft der Depression scheint zu sein: »Du entkommst mir nicht, Du kannst mich eine Zeit verdrängen, aber dann geht es Dir noch schlechter und ich hole Dich wieder ein (und Du installierst das Spiel wieder)«
Das einzig Tröstende daran ist, dass ich nach so einer Phase nicht mehr wie früher noch zusätzlich auf mich drauf haue, weil ich wieder so schwach war und mir extrem geschadet habe. Ich versuche nachsichtig mit mir zu sein, freundlich zu mir zu sein, gerade weil ich wieder leide wie ein Hund. Tatsächlich ist das, das einzig Richtige, was ich dann tun kann. Schließlich habe ich es geschafft, diese Phase zu beenden, auch wenn die Albträume mir erst wieder die Grenzen bewusst machen mussten.
Mittlerweile bin ich dazu übergangen inoffiziell zu meditieren, d. h. ich integriere, wann immer das möglich ist, wann immer es mir bewusst ist, kleine ACT-Übungen und Meditationen in den Alltag. Zum Beispiel sage ich meine Metta-Sätze beim Autofahren oder unter der Dusche. Ich mache eine kleine Achtsamkeitsmeditation im Wartezimmer meiner Heilpraktikerin bzw. meiner Hausärztin oder ich mache eine Geh-Meditation auf dem Fußweg dorthin. Abends vor dem Einschlafen sage ich die Metta-Sätze ab und zu und morgens probiere ich gerade eine kleine Zentrierung meines Therapeuten, um besser aus dem Bett zu kommen.
Fazit: Meditation in einer Depression ist eine schwierige Sache. Meditationslehrer raten sogar davon ab, in einer akuten Depression mit der Meditation anzufangen und dies erst zu tun, wenn das Schlimmste überstanden ist. Für erfahrene Meditierende eignen sich kurze inoffizielle Meditationen am besten. Integriere kurze Übungen in den Depressions-Alltag, wann immer das möglich ist, nutze Wartezeiten für kurze Meditationen und ganz wichtig, sei freundlich und mitfühlend zu Dir, wenn es nicht so funktioniert, wie Du es Dir wünschst oder gewohnt bist.
Damit das gelingt, ist es besonders wichtig, in Zeiten ohne depressive Phase sich regelmäßig in Achtsamkeit und Selbstmitgefühl zu üben.
Ein Therapeut sagte mal zu mir:
Die Achtsamkeit ist wie ein Muskel, der regelmäßig trainiert werden muss, damit er uns zur Verfügung steht, wenn wir Ihn brauchen.
Es ist eine alte Binsenweisheit: Übung macht den Meister!
Als besonders hilfreich in einer depressiven Phase empfinde ich meine Metta-Sätze, die ich jederzeit zu mir sagen kann. Gerade morgens vor dem Aufstehen und abends vor dem zu Bett gehen haben sie sich als wertvolle Stütze erwiesen. In diesem Sinne
Mögest Du sicher und geborgen sein
Mögest Du gesund sein
Mögest Du achtsam und freundlich zu Dir sein
Mögest Du Dich und Dein Leben annehmen, wie es ist
Mögest Du mit Leichtigkeit und Gelassenheit leben
Und mögest Du frei und gelöst sein