» Glücklichsein ist eine Art des Daseins, die auf innerer Freiheit, Weisheit, Mitgefühl, liebevoller Anteilnahme und Mut basiert. «Matthieu Ricard
Heute war ein Gastkommentar in der Tageszeitung mit dem vielversprechenden Titel »Worauf es im Leben wirklich ankommt«. Verfasst wurde er von Karlheinz Ruckriegel, Professor für Glücksforschung und Volkswirtschaft an der Hochschule Nürnberg. Der Kommentar hat mich nachdenklich gemacht, denn er zeigt, dass die westliche Gesellschaft noch immer eine weitestgehend falsche Vorstellung von Glück hat.
Inhaltsübersicht:
Glück ist ein gutes Gefühl, das nicht von Dauer ist vs. Glück ist emotionales Wohlbefinden
Diese falsche Vorstellung von Glück hängt hauptsächlich damit zusammen, das wir ein glückliches Leben an den Zielen messen, die wir erreichen wollen. Das fängt schon damit an, dass Professor Ruckriegel von »glücklich sein« spricht. Dieser Ausdruck impliziert meiner Meinung nach eine irrige Annahme: »Glücklich sein«, sei ein Zustand, der erreichbar wäre, also ein Ziel. Ist dieses Ziel einmal erreicht, werden wir »glücklich sein«.
Der Autor, Arzt und Psychologe des Bestsellers »Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei« über die erfolgreiche [tooltip tip=”ACT wurde von dem Psychologen Steven Hayes und seinen Kollegen Kelly Wilson und Kirk Strosahl entwickelt. ACT gehört zu den neueren Verhaltenstherapien der sogenannten »Dritten Welle«. Die Wirkung von ACT wurde durch wissenschaftliche Studien belegt … zum Glossar »”]Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT), Dr. Russ Harris definiert Glück zum einen als »ein gutes Gefühl«, dem wir nachjagen und dabei feststellen müssen, das es nicht von Dauer ist. Wir wollen es festhalten, stellen aber fest, das es sich nicht festhalten läßt. Zum anderen definiert er Glück als eine aktive (Lebens-)Philosophie ein zufriedenes, erfülltes und sinnvolles Leben zu leben.
Prof. Ruckriegel definiert Glück als »emotionales Wohlbefinden«, bei dem es auf das Verhältnis zwischen positiven und negativen Gefühlen im Tagesdurchschnitt ankommt. Er schreibt:
Eine glückliche Person erfreut sich häufig (leicht) positiver Gefühle und erfährt seltener negative Gefühle im »Hier und Jetzt«.
Das geht am wirklichen Leben vorbei: Das Leben beinhaltet auch Kummer und Leid. Wer sein Glück am eigenen emotionalem Wohlbefinden misst und versucht negative Gefühle zu vermeiden und positive Gefühle anzuhäufen z.B. durch [tooltip tip=”»positives Denken« oder auch »positive Affirmation« ist eine Methode, die in vielen psychotherapeutischen Ansätzen eingesetzt wurde und wird, um dysfunktionales Verhalten und Denken zu lindern. Mittlerweile gehen neuere Studien davon aus, dass diese Methode labile und depressive Menschen sogar schädigen kann und bei unkritischen Menschen zu Realitätsverlust führen kann … zum Glossar »”] positives Denken oder gar an ihnen festzuhalten, steckt in Wahrheit in einer »Glücksfalle«: Das Leben wird uns die ganze Bandbreite an menschlichen Gefühlen bescheren, Freude, Liebe und Glück ebenso wie Trauer, Angst und Wut und das tagtäglich. Harris schreibt:
Je mehr wir uns bemühen, ausschließlich angenehme Gefühle zuzulassen, desto größer die Sorge und Niedergeschlagenheit, sobald sie uns entgleiten.
Der Versuch unangenehme Gefühle zu unterdrücken ist wie ein Bumerang, eine Zeit lang können wir sie von uns fernhalten, aber sie werden unweigerlich und noch stärker zu uns zurückkehren. Ein besonders treffender, witziger Spruch aus dem Buch »Der achtsame Weg zur Selbstliebe« des Psychologen Christopher Germer ist mir dazu nachdrücklich in Erinnerung geblieben:
»Wenn Du etwas ablehnst, geht es in den Keller und trainiert Gewichtheben!«
Wertorientiertes Leben vs. zielorientiertes Leben
Als zweiten Maßstab nennt Prof. Ruckriegel »kognitives Wohlbefinden«: Er definiert dies mit dem Grad der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, einer Bewertung des eigenen Lebens. Er schreibt:
Hier findet eine Abwägung zwischen dem, was man will (den Zielen, Erwartungen, Wünschen), und dem was man hat, statt. Es geht also um das Urteil, das Menschen fällen, wenn sie ihr Leben bewerten, wobei es hier entscheidend auf die Ziele ankommt, die Menschen für sich selbst setzen.
Er nennt für ein subjektives Wohlbefinden wichtige sogenannte Glücksfaktoren:
- Gelingende/liebevolle soziale Beziehungen (Partnerschaft, Familie, Freunde, Kollegen, Nachbarn etc.)
- Physische und psychische Gesundheit
- Engagement und befriedigende Erwerbs- und/oder Nichterwerbs-Arbeit
- Persönliche Freiheit
- Innere Haltung (im Hinblick auf Lebensziele/Prioritäten, Dankbarkeit, Optimismus, Vermeidung von sozialen Vergleichen, Emotionsmanagement) und Lebensphilosophie (Spiritualität, das heißt eine persönliche Suche nach dem Sinn des Lebens bzw. Religiosität.
Betrachtet man diese Glücksfaktoren näher, definieren sie sich ausschließlich als Ziele. Das wirft ein paar wichtige Fragen auf, auf die im Kommentar leider nicht eingegangen wird:
- Wie werden Ziele überhaupt definiert?
- Wie können wir gesteckte Ziele erreichen?
- Woran sollen sich diese Ziele orientieren?
- Wie wollen wir uns verhalten, wenn wir ein Ziel erreicht haben und wie, wenn wir ein Ziel nicht erreichen?
Warum ein ausschließlich zielorientiertes Leben zu Problemen führen kann?
Ziele sind zwar wichtig, sie geben uns Orientierung, sie können uns motivieren. Ein »glückliches Leben« allein vom Erreichen bestimmter Ziele abhängig zu machen kann zu einer Reihe von Problemen führen. Dann hasten wir z.B. nur noch von einem Ziel zum nächsten. Ist ein Ziel abgehakt kommt das nächste dran, wie bei einer To-Do-Liste, das hat was von Ziele-hopping. Wir freuen uns kurz über das erreichte Ziel, so richtige Zufriedenheit will sich aber nicht einstellen. Deshalb gehen wir gleich das nächste Ziel auf unserer Liste an und hoffen nach Erreichen dieses Ziels dauerhafte Zufriedenheit zu erfahren. Das kann ziemlich erschöpfend und frustrierend sein. Vor allem aber verpassen wir das Leben im »Hier und Jetzt« oder nehmen es nur oberflächlich wahr. Sicher kommt Dir folgende Aussage bekannt vor:
wenn ich das (einen guten Job, ein Haus, eine Familie, finanzielle Sicherheit, Ansehen, einen Status, Anerkennung etc.) erreicht habe, dann werde ich glücklich sein, dann kann ich endlich anfangen das Leben zu genießen.
Das Leben findet allerdings nicht in der Zukunft (und auch nicht in der Vergangenheit) statt, denn das eine ist vergangen und unveränderlich und das andere noch nicht geschehen und ungewiss. Nein, das Leben findet im gegenwärtigen Moment statt, d.h. »emotionale Glücksmomente« wie den Genuss eines leckeren Essens, von Musik oder einen wunderschönen Sonnenuntergang können wir nur in der Gegenwart erleben. Ein praktisches Beispiel aus meinem Leben: Der folgende Song ist einer meiner Lieblingssongs, der für mich pure Lebensfreude in Mitten meiner Depression verkörpert, wenn ich meine negativen Gedanken und Gefühle sein lassen kann, wie sie sind und vollkommen präsent bin, während ich den Song höre, ohne zu versuchen durch das Hören positive Gefühle zu erzeugen oder zu erwarten. Versuche doch mal genau hinzuhören, schließe die Augen und tue nichts nebenbei, lasse Dich vollkommen bewusst auf das Hören ein, mit einem Deiner Lieblingssongs, aber vielleicht gefällt Dir dieser ja auch;-) Es gibt ein buddhistisches Sprichwort, das mir dazu einfällt:
Wenn ich gehe, gehe ich. Wenn ich sitze, sitze ich. Und wenn ich esse, esse ich.
Und wenn ich Musik höre, dann höre ich Musik.
Quelle: The Growlers – Sea Lion Goth Blues | Songtext | Länge: 2:31 Minuten.
Echte Freude findet man nur im Genuss der einfachen Dinge. Wir erkennen sie oft nur nicht, können sie nicht wertschätzen, weil wir zu sehr auf unsere Ziele fokussiert sind, weil uns diese kleinen Dinge banal erscheinen, nichts Besonderes sind, ja selbstverständlich sind. Oft tun wir sie auch nur nebenbei. Wir schreiben eine E-Mail an einen guten Freund und hören im Hintergrund Musik. Dann sind wir weder für das Schreiben an den Freund noch für die Musik präsent und beides passiert eher oberflächlich. Oder wir sitzen mit einer geschätzten Person, die wir lange nicht mehr gesehen haben, in der Kneipe unterhalten uns und checken nebenbei unsere SMS, Mails, Twitter-Nachrichten. Wie mag sich unser Gegenüber dabei fühlen? Wie würdest Du Dich dabei fühlen? Vermutlich »nicht ernst genommen«, vernachlässigt, »nicht wertgeschätzt«. Ich habe das selbst oft erlebt. Deshalb bemühe ich mich, meinem Gegenüber und bei allem, was ich tue, erlebe so präsent zu sein wie möglich. Dafür ist das Praktizieren von Achtsamkeit notwendig.
Präsent sein: Den gegenwärtigen Moment wertschätzen
Damit wir diese Momente erkennen und wertschätzen können brauchen wir [tooltip tip=”(engl. mindfulness) kann als Form der Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit einem besonderen Wahrnehmungs- und Bewusstseinszustand verstanden werden … zum Glossar »”]Achtsamkeit (auch Präsenz genannt). Achtsam sein bedeutet, alles was im gegenwärtigen Augenblick geschieht bewusst wahrzunehmen und bewertungsfrei zuzulassen, ganz gleich ob es uns positiv oder negativ erscheint. Statt uns z.B. von negativen Gefühlen abzulenken, wie wir es gerne tun, die Aufmerksamkeit bewusst dort hinzulenken. Das betrifft sowohl die innere als auch die äußere Welt. Die innere Welt beinhaltet all unsere Gedanken, Körperempfindungen und Gefühle, die äußere Welt bezeichnet das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, also alles was wir sehen, hören, riechen, schmecken, spüren (damit meine ich z.B. die Wärme der Sonne auf der Haut) und tun. Ein zielorientiertes Leben verwehrt uns diese Momente. Wir rennen unserem Glück hinterher und laufen doch daran vorbei.
Zur Zeit erlebt die Achtsamkeit einen Boom als Wundermittel für alles. Oft wird ihre ursprüngliche Bedeutung im Buddhismus dabei außer Acht gelassen. Man setzt Achtsamkeit zur Selbstoptimierung und als Entspannungstechnik ein, aber Achtsamkeit ist viel mehr.
Woran wollen wir unsere Ziele orientieren?
Ein zielorientiertes Leben birgt noch weitere Probleme: Woran wollen wir unsere Ziele orientieren? Wie gehen wir damit um, wenn ein gestecktes Ziel nicht erreicht wird, z.B. weil es unrealistisch und unerreichbar ist oder sich an falschen Maßstäben wie beispielsweise denen einer Gesellschaft, von Medien, öffentlichen Personen (Stars, Sportler, Schauspieler, Models) misst? Das kann schnell in eine »Realitätskluft« führen. So bezeichnet Harris eine Kluft zwischen dem Leben, das wir uns wünschen und dem Leben, das wir tatsächlich haben; zwischen dem, wie wir uns fühlen wollen und dem wie wir uns tatsächlich fühlen; zwischen dem, wie oder wer wir sein wollen und wie oder wer wir tatsächlich sind. Das Ergebnis ist häufig Unzufriedenheit und Frustration.
Oft erkennen wir dabei leider nicht, dass auch im vermeintlich Negativen das Potential steckt, durch bewusstes, wertgeleitetes Handeln etwas Positives entstehen zu lassen.
Es gibt massenweise Bücher, die behaupten, man könne alles im Leben erreichen, das alles möglich sei, wenn man sich nur genug anstrengen würde oder lernen würde »positiv zu denken«. Der Selbstoptimierungswahn in unserer Gesellschaft ist dafür ein gutes Beispiel. Unser ganzes Wirtschaftssystem ist auf diesen irreführenden und unrealistischen Annahmen aufgebaut. Diese machen falsche Versprechungen, erwecken unrealistische Erwartungen und Ansprüche an uns selbst. Das führt oftmals zu Enttäuschungen, denn die meisten Menschen sind nun mal durchschnittlich, das ist eine Tatsache. Wir fühlen uns schlecht und minderwertig im Vergleich mit diesen Idealbildern, die uns durch Medien und Gesellschaft vorgesetzt werden. Das kratzt an unserem Selbstwertgefühl (siehe Beitrag: »Die Suche nach Selbstwert«). Letztendlich bereitet dies alles auch den Weg zu einer zunehmend egoistischer werdenden Gesellschaft. Denn wir werden ständig dazu aufgefordert uns mit anderen zu vergleichen, haben das Gefühl andere ausstechen zu müssen, überbieten zu müssen, um Anerkennung zu bekommen, um erfolgreich zu sein. Das Ergebnis ist eine Zunahme von psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Burn-Out und Angststörungen durch Mobbing und Wettbewerbsdruck.
Neuere Studien zeigen z.B., dass die Methode des positiv Denkens labile und depressive Menschen sogar schädigen und bei unkritischen Menschen zu Realitätsverlust führen kann. Der Psychologieprofessor Neuberger sieht in der Methode des »Positiven Denkens« eine zirkuläre Falle:
Wenn du keinen Erfolg hast, dann bist du eben selber schuld, weil du es offensichtlich nicht richtig probiert hast.
All diese bedenklichen Idealbilder und irreführende Annahmen definieren sich über Ziele. Harris zeigt uns, dass man zwar nicht alles erreichen kann, was man will, aber dennoch ein reiches, erfülltes und zufriedenes Leben führen kann, selbst wenn es hart, grausam oder ungerecht ist.
Seine zweite Definition von Glück bezeichnet er demnach als aktive Philosophie ein erfülltes, zufriedenes und sinnvolles Leben zu schaffen. Das ist eine lebenslange Aufgabe.
Was ist mein Lebenszweck?
Damit dies gelingen kann brauchen wir einen Sinn im Leben, einen Lebenszweck. Wie finden wir aber heraus, was unser Lebenszweck sein könnte? Harris stellt dazu in seinem Buch »Wer vor dem Schmerz flieht, wird von ihm eingeholt« ein paar wichtige Fragen:
- Was ist mir tief im Herzen wirklich wichtig?
- Wofür will ich während meiner Zeit auf der Erde stehen?
- Welche Art Mensch möchte ich sein?
- Wie will ich mich gegenüber mir selbst, gegenüber anderen und gegenüber meiner Umwelt allgemein verhalten?
- Welche persönlichen Eigenschaften möchte ich kultivieren?
Denke über diese Fragen einen Moment nach bevor Du den folgenden Auszug aus dem erwähnten Buch liest:
Einen Lebenszweck finden
Alles, was wir tun, dient einem Zweck. Egal, ob wir Wäsche waschen oder Eis essen, ob wir heiraten oder die Steuererklärung machen, ob wir spätabends vor dem Fernseher hocken oder frühmorgens zum Joggen gehen – wir werden aktiv, damit etwas geschieht. Aber wie oft ist uns die jeweilige Absicht klar? Und wie oft dient unser Handeln bewusst einem größeren Zweck, der uns persönlich wichtig ist?
Die meisten Menschen würden auf beide Fragen wohl die Antwort »nicht allzu oft« geben. Wir neigen dazu, wie ferngesteuert durchs Leben zu gehen, statt uns bewusst zu entscheiden, was wir tun und wie wir es tun. Problematisch daran ist, dass wir womöglich große Teile unserer Tage mit Aktivitäten verbringen, die nicht besonders erfüllend sind. Richten wir unser Handeln jedoch nach einem selbst gewählten Zweck aus, nach einer Sache, die uns persönlich wichtig ist, dann ändert sich alles. Unser Leben erhält Bedeutung. Wir entwickeln ein Gespür für die Richtung, in die wir gehen, und dafür, das Leben, das wir führen wollen, zu erschaffen. Dazu kommt ein Gefühl der Lebendigkeit und Erfüllung, das in einem ferngesteuerten Leben völlig fehlt.
Wenn ich meine Klienten nach ihrem Lebenszweck frage, reagieren sie am häufigsten mit Verwirrung, Unruhe oder der Antwort »Keine Ahnung«. Die wenigen Ausnahmen sind Klienten, die bereits eine starke Vorstellung von ihrer Zweckhaftigkeit haben, entweder durch ihre Religion oder aufgrund ihrer früheren persönlichen Entwicklung. Wenn ich den anderen die »großen Fragen« stelle, die oben aufgeführt sind, so regt sie das zum Nachdenken an. In ACT bezeichnen wir diesen Prozess als Klärung der eigenen Werte, und das ist etwas ganz Wesentliches, denn es sind unsere Werte, die unserem Leben einen Zweck verleihen.
Was aber sind Werte genau? Es sind unsere tiefsten Herzenswünsche, wie wir uns als Menschen verhalten wollen; es sind die Eigenschaften, die wir in unser tägliches Handeln einbringen wollen. Von Zielen unterscheiden sie sich insofern, als Ziele erreicht werden können. Das heißt, man kann Ziele abhaken, während unsere Werte uns bis an unser Lebensende begleiten.
Falls diese Vorstellung Sie ein wenig verwirren sollte, ist das kein Wunder. Wir leben in einer Gesellschaft, die auf Ziele, nicht auf Werte hin orientiert ist. Selbst wenn der Begriff »Werte« verwendet wird, sind oft Regeln oder Ziele gemeint, weshalb ich den Unterschied klarer herausarbeiten will. Bei Werten geht es darum, wie wir uns verhalten wollen, während es bei Zielen darum geht, was man bekommen will. Wenn Sie eine tolle Arbeitsstelle finden, ein großes Haus kaufen, einen Partner oder eine Partnerin finden, heiraten und Kinder haben wollen – das sind alles Ziele. Man kann sie abhaken: »Erledigt!« Werte hingegen drücken aus, wie Sie sich bei jedem Schritt des Wegs verhalten wollen, während Sie auf Ihre Ziele zugehen, wie Sie sich verhalten wollen, wenn Sie Ihre Ziele erreicht haben, und wie Sie sich verhalten wollen, wenn Sie Ihre Ziele nicht erreichen!
Falls Ihre Werte also darauf hinauslaufen, liebevoll, freundlich und fürsorglich zu sein, dann können Sie sich gleich jetzt und immer so verhalten – selbst wenn Sie nie das Ziel erreichen, Partner oder Partnerin zu finden oder Kinder zu bekommen. Natürlich könnten Sie solche Ziele durchaus auch erreichen, ohne freundlich, liebevoll und fürsorglich zu sein. Dasselbe gilt für Ihre Arbeitsstelle. Wenn es Ihren Werten entspricht, sich dort produktiv, effizient, kollegial, aufmerksam und verantwortungsbewusst zu verhalten, dann können Sie das gleich jetzt tun, selbst wenn ihr Job »das Letzte« ist. Sie könnten aber auch einen tollen Job haben, die erwähnten Werte jedoch allesamt vernachlässigen.
Nehmen wir nun einmal an, Sie wollten geliebt und respektiert werden. Sind das Werte? Nein, das sind Ziele! Da geht es nämlich darum, etwas zu bekommen, in diesem Fall Liebe und Respekt von anderen. Ihre Werte sagen aus, wie Sie sich verhalten wollen, während Sie diese Ziele verfolgen, egal, ob Sie sie erreichen oder nicht. Wenn Sie hingegen liebevoll und respektvoll sein wollen, dann sind das Werte; es sind erwünschte eigene Verhaltenseigenschaften, und wir können uns und andere liebevoll und respektvoll behandeln, wann immer wir wollen. Geliebt und respektiert zu werden sind jedoch Ziele (oder auch »Wünsche« oder »Bedürfnisse«), und die befinden sich außerhalb unserer Kontrolle, denn wir können niemanden zwingen, uns zu lieben und zu respektieren. Im Gegenteil – je mehr wir das versuchen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass man uns tatsächlich Liebe und Respekt entgegenbringt. Handeln wir jedoch liebevoll und respektvoll uns selbst und anderen gegenüber, besteht eine gute Chance, dass wir das auch zurückbekommen. Garantieren kann ich das natürlich nicht, denn im Gegensatz zu Märchen liefert das Leben eben nicht immer ein Happy End.
Quelle:»Wer vor dem Schmerz flieht, wird von ihm eingeholt« von Russ Harris, Kapitel 14 Seite 149-151
In diesem sehenswerten animierten Cartoon zeigt Russ Harris, welchen Unterschied es machen kann, ein ausschließlich zielorientiertes Leben oder ein wertorientiertes Leben zu führen:
» Das Leben gibt denen am meisten, die das meiste aus dem machen, was das Leben ihnen gibt. «Russ Harris
Ein Beispiel aus dem wahren Leben
Ich habe einen guten Freund, der seit einiger Zeit palliativ behandelt wird, weil er von Geburt an an einer schweren nicht heilbaren Lungenerkrankung leidet und dauerhaft künstlich beatmet werden muss. Trotzdem fällt er etwa 40x am Tag in eine Hypoxie. Der Begriff Hypoxie bezeichnet die den ganzen Körper oder Teile davon betreffende Mangelversorgung des Gewebes mit Sauerstoff, bei meinem Freund betrifft dies z.B. das Gehirn. Die Hypoxie führt zu Atemnot bis hin zur Bewusstlosigkeit von mehreren Minuten. Erst durch einen reflexartig ausgelösten Krampfanfall erwacht er wieder, zurück bleiben neben starken Schmerzen, Gedächtnisstörungen, d.h. er weiß zum Beispiel nicht mehr, wer ich bin. Deshalb hat er sich alles Wichtige schriftlich notiert. Außerdem könnte jede Hypoxie, die letzte sein. Er sagte mal zu mir, dass wäre so wie sterben und wiedergeboren zu werden und das bis zu 40x am Tag! Ich kann mir nicht annähernd vorstellen, wie das sein muss! Laut Ärzten müsste er eigentlich schon längst tot sein. Seine Lebenserwartung liegt etwa bei 30 Jahren, jetzt ist er 35! Trotzdem wird er nicht müde zu betonen, er sei glücklich und zufrieden und ich glaube ihm das.
Er schreibt mir jeden Tag und ist eine große Hilfe für mich, ich lerne sehr viel über das Leben von Ihm. Er ist eine unschätzbar wertvolle Inspirationsquelle für Dankbarkeit, Zufriedenheit, Wertschätzung und Glück. Seinen Lebenszweck sieht er darin, anderen leidenden Menschen zu helfen. Dabei orientiert er sich an seinen christlichen Werten von Nächstenliebe, Mitgefühl und Vergebung. Er erfährt Glück, wenn er etwas für andere leidende Menschen tun kann. Ich habe ihn für diesen Beitrag um eine Stellungnahme gebeten:
Dein Text ist schön geschrieben und ehrt mich sehr, doch es geht nicht nur darum Anderen zu helfen, es geht auch darum mit Anderen gemeinsam und durch dessen Erfahrungen zu wachsen, somit hilfst Du mir genauso wie ich Dir helfe. Das ist ein wenig so wie bei “der Blinde und der Lahme”: weißt Du, Du kannst aufgrund Deiner Erkrankung (Anmerkung des Autors: meiner Depression) die Schönheit der kleinen Dinge im Leben, welche das Leben ausmachen nicht sehen und die großen Dinge sucht man meist vergebens. Ich bin der Lahme, welcher Dir die Welt beschreiben kann, so, dass Du die Welt auch sehen und erleben kannst ;-). […] Als ich ganz am Boden lag lernte ich mein Leben so zu akzeptieren wie es ist und ich wurde zu einem Menschen welcher zufrieden wurde – okay natürlich habe auch ich meine dunklen 10 Minuten am Tag, in welchen die Welt um mich herum grau in grau aussieht, aber das gehört einfach zum Leben dazu. Man muss als Mensch egal ob jung oder alt, krank oder gesund lernen die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen und seinen Blickwinkel zu korrigieren.
So ein Leben zu schaffen ist wie bereits erwähnt eine große und lebenslange Aufgabe. Damit dies gelingen kann, braucht es neben Präsenz (Achtsamkeit) und Lebenszweck (wertgeleitetes Handeln) als allererstes »Selbstmitgefühl«:
Selbstmitgefühl als Basis für ein gelingendes Leben
Im Gegensatz zur Erforschung der Achtsamkeit befindet sich die Forschung über das Selbstmitgefühl noch am Anfang. Allerdings erlangt es zunehmend mehr an Bedeutung in der Psychologie und fließt immer stärker in neuere Therapiekonzepte ein.
Eine Vorreiterrolle nimmt dabei die amerikanische Wissenschaftlerin und Psychologin Dr. Kristin Neff ein. Sie ist Associate Professor für menschliche Entwicklung und Kultur an der Universität von Austin Texas. Ihre Forschungen über Selbstmitgefühl sind von großer Bedeutung für die neuere Psychologie. Zusammen mit Christopher Germer hat sie das 8-wöchige »Mindful Self-Compassion Training (MSC) « (deutsch: »achtsames Selbstmitgefühl-Training«) für den Alltag entwickelt.
Das Buch (inklusive 4 CDs) »Selbstmitgefühl Schritt für Schritt« enthält die Übungen und Meditationen des Trainings, praktisch angeleitet durch die erfahrenen Meditationstrainer Christine Brähler und Lienhard Valentin. Die Übungen lassen sich gut in den Alltag integrieren und sind leicht nachvollziehbar. Die Texte erklären die Übungen und bieten eine kompakte Zusammenfassung von Neff’s Grundlagenwerk »Selbstmitgefühl – Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden« über ihre wissenschaftlichen Arbeiten zum Selbstmitgefühl.
Dr. Neff hat außerdem eine Selbstmitgefühls-Skala und einen Fragebogen entwickelt, mit dem Du ermitteln kannst, wie mitfühlend Du mit Dir selbst bist. Wenn Du den Test gerne machen möchtest, findest Du diesen auf folgender Website in deutscher Sprache:
http://www.stangl-taller.at/ARBEITSBLAETTER/TEST/SAT/Test.shtml
Chris Germer definiert Selbstmitgefühl so:
In einem Raum voller Menschen ist es sinnvoll, der Person zu helfen, die am meisten leidet, die man am besten kennt, der man am besten helfen kann. Und manchmal sind Sie diese Person, manchmal ist es jemand anders. Um es mit einem Vergleich aus dem Luftverkehr auszudrücken: Wenn der Luftdruck in der Kabine fällt, müssen wir zuerst uns selbst die Sauerstoffmaske überziehen, ehe wir anderen dabei helfen können.
Selbstmitgefühl bedeutet demnach, dass wir uns dasselbe Mitgefühl entgegenbringen, mit dem wir uns um eine andere leidende Person kümmern würden, dass wir unseren Schmerz sehen und anerkennen können. Wenn wir uns mit einem Hammer auf den Daumen schlagen, dann tun wir Eis drauf und nehmen ein Schmerzmittel ein oder würdest Du auf die Idee kommen,noch mal auf den blauen Daumen zu schlagen, weil Du so ungeschickt warst? Bestimmt nicht! Genau das tun wir aber, wenn wir emotionalen Schmerz erfahren. Wir verurteilen uns, wir gehen hart mit uns ins Gericht für unsere Unzulänglichkeiten und Fehler, wir leiden. Das Selbstmitgefühl lehrt uns freundlich mit uns um zu gehen, weil wir leiden, weil wir ein Mensch sind und alle Menschen unvollkommen sind und Fehler machen. Chris Germer schreibt:
[tooltip tip=”»Die Mettâ-Meditation«, auch Meditation der »Liebenden Güte« genannt, ist eine buddhistische Meditationspraxis zur Entwicklung von mehr Selbstmitgefühl … zum Glossar »”] »Die Liebende Güte« ist Ausdruck des Wunsches, ein anderer Mensch möge glücklich sein. Mitgefühl ist der Wunsch, diese Person möge frei von Leiden sein. Liebende Güte können wir immer und überall erfahren, aber Mitgefühl setzt Leiden voraus. Daher ist Mitgefühl ein Teilaspekt der Liebenden Güte. Mitgefühl stellt sich ein, »wenn unser Herz bebt« angesichts des Leidens eines anderen Wesens, so dass der Wunsch aufkommt, diese Leiden zu lindern. Wenn wir leiden und den Wunsch verspüren, uns selbst zu helfen, erfahren wir Selbstmitgefühl.
Glücklichsein aus buddhistischer Sicht
Der zu Anfang zitierte Philosoph, Wissenschaftler und Mönch Matthieu Ricard, gab kürzlich ein Interview mit der Zeitschrift »Buddhismus aktuell«. Auf die Frage
»Wie können wir angesichts des Leids in der Welt glücklich sein?«
Antwortete er: »Glücklichsein bedeutet nicht, angenehme Erfahrungen zu machen. Glücklichsein ist eine Art des Daseins, die auf innerer Freiheit, Weisheit, Mitgefühl, liebevoller Anteilnahme und Mut basiert. Dieses Glück ist vereinbar damit, das Leid in der Welt zu sehen und eine wachsende Bereitschaft dafür zu entwickeln, es durch zunehmendes Mitgefühl zu mindern. Das ist ein anderer Ansatz, Glücklichsein zu verstehen, als der hedonistische, griechische Ansatz. Es bedeutet: Solange auch nur ein einziges Wesen auf der Welt leidet, sich ihm zuzuwenden und sein Leid zu lindern. Das ist unser buddhistisches Verständnis von Glücklichsein. Es ist weit entfernt von der Vorstellung fortgesetzt angenehmer Empfindungen, was eher ein Rezept für Erschöpfung wäre.
«
Professor Ruckriegel sagt abschließend: »Glücklichsein ist die Folge eines gelingenden Lebens.« Wenn wir ein gelingendes Leben aber vom Erreichen bestimmter Ziele abhängig machen, wie von ihm vorgeschlagen, werden wir nicht glücklich sein, stattdessen führt es dazu unglücklich zu werden. Etwas konkreter ausgedrückt: Statt ein zufriedenes, erfülltes und sinnvollem Leben werden wir zunehmend ein unzufriedenes, unerfülltes und sinnentleertes Leben erfahren.
Tatsache ist: Wir können uns nicht aussuchen, welche Karten uns das Leben gibt, wir können aber lernen trotz allem ein zufriedenes und erfülltes Leben zu schaffen.
[tooltip tip=”Erfahre, was das Wort »Aloha« bedeutet, woher es kommt und was der »Aloha-Spirit« ist … zum Beitrag »”]Aloha*
Dir hat dieser Beitrag gefallen?
Dann empfehle den Beitrag doch über Facebook, Twitter, Google+ oder auch als E-Mail weiter. Du kannst den Beitrag auch als PDF-Datei speichern oder einfach ausdrucken und offline lesen.