Die folgende wahre Geschichte des buddhistischen Lehrmeisters Thich Nhat Hanh hat mich tief beeindruckt. Es zeigt, wie durch Verstehen, echtes Mitgefühl für jedes Lebewesen entstehen kann. Bei Menschen bedeutet Verstehen: zu erkennen, wie ein Mensch zu dem wurde, der er heute ist, warum er das tut, was er tut, gleich ob er Politiker, Waffenproduzent, Waffenhändler, Terrorist, Pirat oder Flüchtling ist. Liebe (Mitgefühl) und Verstehen sind ein und Dasselbe. Ohne Liebe (Mitgefühl) kein Verstehen und ohne Verstehen keine Liebe (Mitgefühl). Alle Lebewesen wollen frei von Leid sein. Bestimmt werden jetzt Einige sagen: aber ich wäre nicht so geworden, egal unter welchen Umständen ich aufgewachsen wäre, egal wo ich geboren worden wäre.
Versetze Dich in diesen Menschen hinein, verstehe seine Lebensgeschichte und frage Dich dann: Bin ich mir da ganz sicher?
In den ersten Jahren im französischen Exil hörte ich von einem elfjährigen Mädchen, das mit seiner Familie und anderen Boatpeople aus Vietnam geflohen war. Von Piraten wurde sie in dem Boot vergewaltigt. Ihr Vater wollte dazwischengehen, doch der Pirat warf ihn ins Wasser. Das Mädchen sprang nach der Vergewaltigung ins Meer und beging Selbstmord. Wir erhielten die Nachricht von dieser Tragödie, als wir im Büro der buddhistischen Friedensdelegation in Paris arbeiteten. Ich war so aufgewühlt, dass ich nicht schlafen konnte. Ich spürte Wut und Verzweiflung.
An diesem Abend visualisierte ich in der Sitzmeditation, wie ich als Baby in einer sehr armen Fischerfamilie an der thailändischen Küste lebte. Mein Vater war Fischer, er konnte nicht lesen und war nie zur Schule gegangen oder hatte einen Tempel besucht, er hatte nie buddhistische Lehren gehört oder eine Art Ausbildung erfahren. Die dortigen Politiker, Lehrer und Sozialarbeiter hatten meinem Vater nie geholfen. Meine Mutter konnte ebenfalls weder schreiben noch lesen, und sie wusste nicht, wie man Kinder aufzog. Schon viele Generationen lang war die Familie meines Vaters arme Fischer gewesen, auch mein Großvater und mein Urgroßvater waren Fischer gewesen. Mit dreizehn wurde auch ich Fischer. Ich war nie zur Schule gegangen, hatte niemals Liebe gespürt oder Verständnis entwickelt und lebte in chronischer Armut, die seit Generationen fortdauerte.
Eines Tages sagte dann ein anderer junger Fischer zu mir: »Lass uns aufs Meer fahren. Da sind Bootsflüchtlinge nicht weit von uns unterwegs, und sie haben oft Gold und Schmuck, manchmal sogar Geld dabei. Schon eine Fahrt kann uns aus unserer Armut befreien.« Ich nahm seine Einladung an und dachte: »Wir müssen ihnen ja nur etwas von ihrem Schmuck nehmen, das schadet niemandem, und dann sind wir nicht mehr arm.« So wurde ich zum Piraten. Beim ersten Mal war mir noch gar nicht bewusst, dass ich nun ein Pirat war. Auf dem Meer dann sah ich, wie andere Piraten junge Frauen in den Booten vergewaltigten. Ich selbst hatte bisher noch nie eine junge Frau berührt; ich hatte mir noch nicht einmal vorstellen können, mit einer jungen Frau auszugehen oder ihre Hand zu halten. Doch dann war auf einem Boot ein sehr schönes junges Mädchen, und es war keine Polizei da, die mich aufhielt. Ich sah, wie andere es taten, und ich fragte mich: »Warum versuche ich es nicht auch? Das ist meine Chance, den Körper dieses jungen Mädchens zu haben.« Und so habe ich es getan.
Wärest du auf dem Boot gewesen und hättest ein Gewehr gehabt, hättest du mich vielleicht erschossen. Doch das hätte mir nicht geholfen. Niemand hat mir je beigebracht, wie man liebt, wie man versteht, wie man das Leiden anderer erkennen und nachempfinden kann. Das hat man auch meinem Vater und meiner Mutter nicht beigebracht. Ich wusste nicht, was heilsam und was unheilsam ist. Ich verstand Ursache und Wirkung nicht. Ich lebte in Dunkelheit. Du könntest mich erschießen, wenn du ein Gewehr hättest, und ich würde sterben. Doch du würdest mir damit überhaupt nicht helfen.
Im Laufe meiner Meditation sah ich Hunderte von Babys, die in dieser Nacht an der thailändischen Küste unter ganz ähnlichen Bedingungen geboren wurden. Einige von ihnen waren Jungen. Könnten die Politiker und Kulturminister tief schauen, würden sie erkennen, dass solche Babys innerhalb der nächsten zwanzig Jahre zu Piraten werden würden. Als ich das sehen konnte, verstand ich das Handeln des Piraten. Indem ich mich in seine Situation versetzte, in eine Familie hineingeboren zu werden, die ungebildet und arm war und das schon seit Generationen, erkannte ich, dass es auch für mich unvermeidlich gewesen wäre, zum Piraten zu werden. Durch diese Erkenntnis verschwand mein Hass, und ich spürte Mitgefühl für diesen Piraten.
Als ich diese kleinen Kinder sah, die so ohne Hilfe und Unterstützung aufwuchsen, wusste ich, dass ich etwas tun musste, damit sie keine Piraten wurden. In mir wuchs die Energie eines Bodhisattva, eines mitfühlenden Wesens voller grenzenloser Liebe. Ich litt nicht länger. Ich konnte nicht nur das Leiden des elfjährigen Mädchens umarmen, das vergewaltigt worden war, sondern auch das Leiden des Piraten.
Wenn du mich als »Verehrter Thich Nhat Hanh« anredest, antworte ich ja. Wenn du mich bei dem Namen des vergewaltigten Mädchens nennst, antworte ich ebenfalls mit Ja. Rufst du den Namen des Piraten, sage ich auch ja. Abhängig von dem Ort meiner Geburt und den Umständen, unter denen ich aufwuchs, könnte ich das Mädchen oder auch der Pirat gewesen sein.
Ich bin das Kind in Uganda oder im Kongo, nur aus Haut und Knochen, mit Beinen so dünn wie Bambusstöcke. Und ich bin auch der Waffenhändler, der tödliche Waffen in den Kongo verkauft. Diese armen Kinder brauchen keine Bomben, sie brauchen etwas zu essen. Doch hier in den USA leben wir davon, Bomben und Gewehre zu produzieren. Und wenn wir wollen, dass andere Gewehre und Bomben kaufen, müssen wir dafür sorgen, dass es Kriege gibt. Wenn du den Namen des Kindes im Kongo rufst, antworte ich ja. Wenn du die Namen derer rufst, die Bomben und Gewehre produzieren, antworte ich ebenfalls ja. Wenn ich zu erkennen vermag, dass ich all diese Menschen bin, verschwindet mein Hass, und ich bin entschlossen, so zu leben, dass ich den Opfern helfen kann, aber auch denen, die Krieg und Zerstörung schaffen.
Quelle: Thich Nhat Hanh. Mein Leben ist meine Lehre: Autobiographische Geschichten und Weisheiten eines Mönchs
Daraufhin schrieb Thich Nhat Hanh das folgende Gedicht:
Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen.
von Thich Nhat Hanh
Sage nicht, dass ich morgen fortgehe –
denn ich komme doch heute gerade erst an.
Betrachte es ganz tief: Jede Sekunde komme ich an –
sei es als Knospe an einem Frühlingszweig
oder als winziger Vogel mit noch zarten Flügeln,
der im neuen Nest erst singen lernt;
ich komme als Raupe im Herzen der Blume
oder als ein Juwel, verborgen im Stein.
Ich komme stets gerade erst an, um zu lachen und zu weinen,
mich zu fürchten und zu hoffen.
Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod
von allem, was lebt.
Ich bin die Eintagsfliege, die an der Wasseroberfläche
des Flusses schlüpft.
Und ich bin auch der Vogel,
der herabstürzt, um sie zu schnappen.
Ich bin der Frosch, der vergnüglich
im klaren Wasser eines Teiches schwimmt.
Und ich bin die Ringelnatter, die in der Stille
den Frosch verspeist.
Ich bin das Kind aus Uganda, nur Haut und Knochen,
mit Beinchen so dünn wie Bambusstöcke;
und ich bin der Waffenhändler,
der todbringende Waffen
nach Uganda verkauft.
Ich bin das zwölfjährige Mädchen,
Flüchtling in einem kleinen Boot,
das von Piraten vergewaltigt wurde
und nur noch den Tod im Ozean sucht;
und ich bin auch der Pirat –
mein Herz ist noch nicht fähig, zu erkennen und zu lieben.
Ich bin Mitglied des Politbüros
mit reichlich Macht in meinen Händen;
und ich bin der Mann, der seine Blutschuld
an sein Volk zu zahlen hat
und langsam in einem Arbeitslager stirbt.
Meine Freude ist wie der Frühling, so warm,
dass sie Blumen auf der ganzen Erde erblühen lässt.
Mein Schmerz ist wie ein Tränenstrom, so mächtig,
dass er alle vier Meere auffüllt.
Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich all mein Weinen und Lachen
zugleich hören kann,
damit ich sehe,
dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.
Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen,
damit ich erwache,
damit das Tor meines Herzens
von nun an offen steht –
das Tor des Mitgefühls.
Als deutscher Staatsbürger habe ich mich sehr intensiv mit unserer Geschichte auseinandergesetzt und mich immer wieder gefragt: wie konnte der Holocaust passieren? Wie konnten die Deutschen das zulassen? Wie konnten die meisten einfach wegschauen? Ich habe stets geglaubt, ich hätte da niemals mitgemacht, ich wäre im Widerstand gewesen. Nachdem ich die Geschichte von Thich Nhat Hanh gelesen hatte, war ich mir da nicht mehr sicher und ich habe mir die folgende Frage gestellt:
Wäre ich statt 1973 schon 1923 geboren worden, wäre ich dann Mitläufer, Widerstandskämpfer, SS-Soldat geworden, der Juden vergaßt hätte oder wäre ich der Jude gewesen, der in die Gaskammer gekommen wäre?
Tatsache ist, dass ich es nicht wissen kann, weil es von den Umständen abhängig gewesen wäre, unter denen ich aufgewachsen wäre, auch wenn wir im Gegensatz zu Tieren ein Bewusstsein haben, denken können und Entscheidungen treffen können. Trotzdem kann ich mir heute nicht sicher sein, wer ich gewesen wäre.
Und da wurde auch mir bewusst: Ich hätte jeder sein können.
Aloha*
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