Jedes Jahr das Gleiche: Seit ich mich mit meiner Depression herumschlage, ist der Frühling eine besonders schwierige Zeit. Eigentlich sollte man doch meinen, dass ein Depressiver nach der überstandenen düsteren und trostlosen Winterzeit genauso aufblühen sollte, wie die Natur. Das Gegenteil ist der Fall: Ich stürze erst mal in ein tiefes Loch. Noch während der Winterzeit sehne ich den Frühling herbei, ist er aber plötzlich da, wäre ich froh, es wäre wieder Winter.
Das liegt wohl daran, dass meine düstere Stimmung, im Gegensatz zum Winter, so gar nicht zum Frühling passt. Überall fangen die Bäume an zu blühen, Blumen schießen farbenprächtig aus dem Boden, die Vögel zwitschern schon früh morgens fröhlich vor sich hin und die Frauen tragen wieder kurze Kleidung. Hunde tollen durch den Park und frisch verliebte Pärchen flanieren Händchen haltend durch die Stadt, die Eisdielen öffnen und gut gelaunte Menschen sitzen draußen vor den Cafés und genießen die Sonnenstrahlen.
Ich könnte kotzen! Das ist ein derart heftiger Kontrast zu meinem momentanen Innenleben, das es kaum zu ertragen ist. Deshalb meide ich es rauszugehen und verziehe mich in meine abgedunkelte Wohnung, wie ein Vampir, der die Sonne fürchtet. Obwohl das seit 5 Jahren so geht, falle ich jedes Jahr in dieses Loch und es dauert eine ganze Zeit, bis ich da wieder rausgeklettert bin und mich »aklimatisiert« habe.
Natürlich kommentiert mein Kopf das alles, nervt mich ständig damit, wie toll doch das Leben sein kann, was es alles zu bieten hat und was ich gerade so alles verpasse und überhaupt in meinem Leben verpasst habe und nie mehr nachholen kann, dass alles so bleiben wird, wie es ist, die Depression nie wieder weggeht, ich einsam und allein bleiben werde und mein Leben sowieso scheiße ist, ich aufgeben sollte, weil ich es ja eh nicht auf die Reihe bekomme. Und natürlich hört sich das alles wie die absolute und unveränderbare Wahrheit an. Das Ganze wird dann noch mit Bildern schön ausgemalt, bis ich einen kompletten Film im Kopf habe, bei dem ich mein eigener Regisseur, Autor, Kameramann und Toningenieur bin, mit mir als Hauptdarsteller. Ich verschmelze mit meinen Gedanken.
Merkst Du, was für eine unglaubliche Macht Gedanken über uns haben? Wenn das Kopfkino erst mal läuft, ist es sehr schwer, den Film zu stoppen!
Während draußen also das Leben pulsiert, hocke ich in meiner Vampirhöhle und versuche mal verzweifelt, mal wütend, mal tieftraurig einen Weg zu finden, mich langsam nach draußen zu wagen und all diese Emotionen mitzunehmen. Und dann irgendwann meldet sich da ganz leise und schüchtern ein hilfreicher Gedanke zu Wort und flüsternd sagt er:
Verstand: »Zentrierung.«
Ich bin noch voll im Film drin, vermutlich seit mehr als einer Stunde.
Verstand: »ACT.«
Ich weiß nicht, was er mir sagen will und frage mich, warum er plötzlich englisch spricht?
Verstand: »Du könntest eine Zentrierung machen.«
Ich höre nur halb hin, der Film läuft noch immer, die Farben verblassen aber ein wenig, es wirkt nicht mehr so real.
Verstand (lauter werdend): »Die CD!!!«
Ich: »Welche CD?«
Verstand: »Die Übungs-CD.«
Ich werde hellhörig, der Ton im Film wird leiser.
Ich (auf der Leitung stehend): »Ähhh…«
Verstand: »Die liegt im CD-Player.« Der Film fängt an zu ruckeln.
Ich:»ACH WAS!«
Der Film hält an.
Verstand: »Die Fernbedienung!«
Ich: »Was ist damit?«
Verstand: »Einschalten!!! Jetzt!!! EINSCHALTEN!!!«
Ich: »Den Film wieder einschalten?«
Verstand (sichtlich genervt):»Nein!!! Den CD-Player, Du Blödmann!«
Dann fällt es mir wieder ein, die Übungs-CD, die immer im Player liegt, aber an die ich einfach nicht gedacht hatte, der Film war so fesselnd (an den Sessel, um genau zu sein, in dem ich vor mich hingrübelte und das Drehbuch für den bereits laufenden Film fortschrieb). Ich bedanke mich kurz bei meinem Verstand, dass er mich darauf aufmerksam gemacht hat, dann mache ich die Zentrierungsübung und kann mich endgültig vom Film lösen, aufstehen und mein Kopfkino wieder verlassen.
Noch ein abschließender Gedanke zu den Jahreszeiten:
Ich frage mich, wie das wohl wäre, wenn ich irgendwo leben würde, wo immer Winter oder immer Sommer ist?
Aloha*
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